Angst vor Vergleicheritis hatte ich bei Klassentreffen nie. Ich bin mit meinem Leben halbwegs zufrieden, und bei der Hälfte, mit der ich nicht zufrieden bin, habe ich immerhin alles versucht, was in meiner Macht stand. Niemand schafft alles, und wenn jemand etwas von dem erreicht hat, was ich nicht hinbekommen habe, gibt es garantiert auch etwas, was der im Gegensatz zu mir nicht geschafft hat. Also kein Grund, mich irgendwie mies zu fühlen.
Trotzdem bin ich mit extrem miesen Gefühlen zu meinem ersten Klassentreffen, 20 Jahre nach dem Abschluss der 10.Klasse gefahren. War zwar neugierig, was aus den Leuten so geworden ist, aber hatte nicht so viel Lust, den Leuten gegenüber zu treten, die mich jahrelang gemobbt und regelmäßig verprügelt haben. War durchaus interessant. Die Freundinnen, die ich ab der 8.Klasse hatte, waren völlig unterschiedliche Wege gegangen - eine (die ich als sehr schüchtern und naiv in Erinnerung hatte) hat mit 18 geheiratet, ist Mutter geworden und arbeitete bei ihrem Vater im Büro, die andere ist Single geblieben und Psychologin geworden. Die anderen Mädels haben ihr Leben auch gut in den Griff bekommen - sogar die aus der Alkoholikerfamilie, die schon mit 15 die zweite Abtreibung hatte. Bei den Jungs war es durchwachsen. Der stille Junge aus streng katholischer Familie hatte sich umgebracht, drei andere (unter ihnen einer meiner Hauptmobber) trafen sich offensichtlich regelmäßig zum Saufen (und mussten dann auch nach dem Klassentreffen zum Taxi geschleppt werden), der, der immer bei mir abgeschrieben hat, weil er für seine Lehrstelle eine 3 brauchte, hatte die Lehre erfolgreich beendet und führte seine eigene Tischlerei - und mein Hauptmobber war als Personenschützer tätig (Leute verprügeln kann er ja) und hat vom Tod seines einjährigen Kindes erzählt ...
Und ich merkte so langsam, wie meine jahrelanger Hass auf diese Leute durch Mitleid ersetzt wurde ... Irgendwann später hat mich dann noch eine Mitschülerin auf ihn angesprochen und gesagt, dass sie sich freut, ihn mal wieder zu sehen. Und ich hab ihr gesagt, dass ich mich weniger freue, weil er mich damals halt so oft geschlagen hat. Sie war völlig entsetzt, sie hatte das damals nie mitbekommen ... Somit konnte ich dann auch den Gedanken "Alles wissen es, aber keiner tut was dagegen" begraben und durch ein "Wenn Du Hilfe brauchst, musst Du das den Leuten deutlich sagen!" ersetzen. Keine Ahnung ob sie mir tatsächlich geholfen hätten .... aber schon das Wissen, dass es diesem Mädchen nicht egal gewesen wäre, war hilfreich.
Ein paar Jahre später war dann das Treffen meines Abijahrgangs. Jemand hatte alte Fotos mitgebracht und zeigte sie herum und erzählte von den tollen Partys ... und zu meiner Verwunderung war ich auf den meisten Fotos mit drauf und hatte in vielen der Partyerinnerungsgeschichten eine durchaus positive Rolle. Komisch, meine Eigenwahrnehmung war eigentlich "Naja, ich werde geduldet, gehöre aber nicht wirklich dazu und stehe eher unbemerkt am Rand".
Fazit: die Klassentreffen waren nicht unbedingt Highlights meines Lebens. Aber sie haben mir sehr geholfen, paar Dinge aufzuarbeiten und in meinem Kopf gerade zu rücken. Und ich habe einige interessante Lebensgeschichten erfahren. Insgesamt gesehen war es die Reise(n) und die Zeit durchaus wert.